Kein Hinweisschild, keine Gedenktafel erinnert heute an die dramatische Geschichte, die mit dem dreigeschossigen Gründerzeithaus in der Wiesbadener Innenstadt verbunden ist. Von 1939 bis 1945, während des gesamten Zweiten Weltkriegs, versteckte sich in diesem Haus das jüdische Ehepaar Naftali und Sofie Rottenberg vor der Gestapo. Als Zeichen gegen das Vergessen organisierte die Jüdische Gemeinde Wiesbaden in Kooperation mit dem Stadtarchiv der Hessischen Landeshauptstadt nun einen Stadtrundgang auf den Spuren der Rottenbergs mit anschließendem Zeitzeugengespräch.

Für die neu formierte Kreisau AG der Altkönigschule Kronberg bildete diese Veranstaltung am 10.2.2025 den Auftakt zu einer Reihe von Programmpunkten zu den Themen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Geschichte des Holocausts und europäische Verständigung. 18 Schülerinnen und Schüler hatten sich aus dem Taunus auf den Weg nach Wiesbaden gemacht, um sich über das Schicksal von Naftalie Rottenberg und seiner Frau Sofie zu informieren.

Naftali Rottenberg wurde 1892 in Limanowa im heutigen Polen geboren und kam 1916 nach Wiesbaden, wo er ein Textilgeschäft eröffnete. 1928 heiratete er Sofie Deller, die kurz zuvor zum Judentum konvertiert war. 1938 wurde Naftali Rottenberg als staatenloser Jude osteuropäischer Herkunft mit seiner Frau nach Polen abgeschoben.  Nach dem Tod von Sophies Mutter im Sommer 1939 erhielt das Paar die Erlaubnis, zur Klärung von Erbschafts- und Familienangelegenheiten für sechs Wochen nach Wiesbaden zurückzukehren. Dort wurden sie von Freunden vor den deutschen Truppenbewegungen an der polnischen Grenze und dem drohenden Krieg gewarnt. Sophies Schwester Ria und ihr Mann Theo erklärten sich sofort bereit, die beiden aufzunehmen und – unter Einsatz ihres eigenen Lebens – in ihrer Wohnung zu verstecken.

Zwei glücklichen Umständen ist es zu verdanken, dass die Rottenbergs bis zur Befreiung durch die US-Armee unentdeckt blieben und die Shoah überlebten: Erstens war ihre Rückkehr nach Wiesbaden 1939 nicht in der Meldekartei vermerkt worden. So wurde verhindert, dass die Gestapo auf sie aufmerksam wurde und nach ihnen suchte. Zweitens verrieten die Nachbarn, die von dem im Haus versteckten Ehepaar gewusst haben mussten, sie nicht an die Behörden.

Nach dem Krieg engagierte sich Naftali Rottenberg als Vorsitzender für den Wiederaufbau der Jüdischen Gemeinde. 1955 lernte ihn dort der damals 21-jährige Gideon Farkas kennen. Als „Zweitzeuge“ berichtete Farkas im Anschluss an den Stadtrundgang mit viel Sympathie von seiner persönlichen Begegnung mit Rottenberg, den er als sehr hilfsbereiten und anständigen Menschen erlebt habe. Vom Schicksal der Rottenbergs habe Farkas erst später erfahren. Weder Naftali noch Sofie hätten ihm gegenüber jemals über ihre Zeit im Versteck gesprochen.

Nachdem ein erster Antrag der Rottenbergs auf finanzielle Entschädigung für das erlittene Unrecht von einem Gericht abgelehnt worden war, wurde dem Ehepaar ab 1954 als Holocaust-Überlebenden eine geringe Opferrente gewährt. Naftali Rottenberg starb 1961, seine Frau Sofie 1970 in Wiesbaden.

Daniel Keiser und Martin Fichert

 

Im Folgenden schildern Mitglieder der Kreisau AG ihre Eindrücke von der Veranstaltung:

Besonders beeindruckt hat mich der Einsatz von Sophies Schwester Ria und ihrem Mann Theo, die ihr eigenes Leben riskierten, um die beiden zu verstecken. Es zeigt, dass es immer Menschen gab, die Widerstand leisteten – auch auf vermeintlich unscheinbare Weise. Die Veranstaltung hat mich zum Nachdenken gebracht, weil sie gezeigt hat, dass Geschichte oft näher ist, als man denkt.

Das Haus, in dem die Rottenbergs sich versteckten, steht noch immer, und doch erinnert nichts an das, was dort passiert ist. Der Bezug zur Gegenwart ist für mich eindeutig: Zivilcourage ist auch heute wichtig. Die Geschichte der Rottenbergs zeigt, wie entscheidend es ist, hinzusehen und Menschen in Not zu helfen.

Henry von Heil

Die Verfolgung der Juden im Dritten Reich ist für uns heute kaum noch greifbar – trotz Geschichtsunterricht und oft umfassender Aufklärung. Dabei gibt es unzählige bewegende Geschichten, wie die des Ehepaars Rottenberg, die der Welt weitgehend verborgen bleiben.

Das Gespräch mit Gideon Farkas führte mir vor Augen, wie nah uns diese Zeit des Schreckens doch noch steht. Einen Zeitzeugen davon berichten zu hören, wie das Ehepaar nach der Zeit im Versteck ins Leben zurückfand – all das hat sicherlich jeden Besucher des Stadtrundgangs tief berührt und zum Nachdenken angeregt.

Julina Reich   

Ich finde es unvorstellbar, dass es sogar heutzutage noch zu Judenfeindlichkeit kommt, und ich war überrascht davon, wie gut die jüdische Gemeinde in Wiesbaden gesichert war. Dank dem aufschlussreichen Stadtrundgang bin ich viel sensibler gegenüber den angesprochenen Themen geworden.

Friederike Grell